Freiheitsraum Ruhestand. Möglichkeiten der persönlichen Entwicklung in der dritten Lebensphase.
In seiner Predigt im Gottesdienst anlässlich der 75 Jahrfeier des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU) in Berlin am letzten Freitag ging Erzbischof Dr. Heiner Koch auf die persönliche Freiheit ein, die jeder Mensch mit seiner Geburt geschenkt bekommt. Er betonte die vielfältigen Entscheidungsmöglichkeiten, die jeder Mensch in seiner persönlichen Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen und während seines Erwachsenendaseins hat. Einschränkend möchte ich ergänzen, in unserem politischen System und in unserer freien Gesellschaftsordnung.
Die Predigt hat mich zum Nachdenken über die besondere Entwicklung von Unternehmern und Führungskräften angeregt. Diese nutzen die vom Erzbischof beschriebenen Freiheiten in ganz besonderer Weise aus, zum Nutzen ihrer Unternehmungen und zur persönlichen Entwicklung im Rahmen des gegebenen Systems. Gleichzeitig aber, und darauf hat der Erzbischof zurecht hingewiesen, schränken wir selbst mit jeder Entscheidung unsere weiteren Freiheitsräume ein. Dies gilt in besonderem Maße für Führungskräfte, für die sich jedoch ein Paradoxon ergibt. Während nämlich in der beruflichen Verantwortung die Entscheidungsspielräume mit jedem Karriereschritt größer werden und schließlich am Ende der Karriere in der höchsten erreichten Position als Unternehmer, Vorstand, Minister oder Geschäftsführer am größten sind, sind gleichzeitig die persönlichen Freiheitsräume am weitesten eingeschränkt, weil die Funktion einen Großteil der vorhandenen persönlichen Ressourcen beansprucht. Damit kann eine Vernachlässigung der individuellen Entwicklung einhergehen, beispielsweise mit Blick auf die persönlichen Beziehungen.
Mit dem Ausscheiden aus der beruflichen Verantwortung lösen sich viele der gegebenen Zwänge. Mit dem Verkauf des eigenen Unternehmens, dem Auslaufen des Vorstands- oder Geschäftsführervertrages oder schlicht mit dem Erreichen des gesetzlichen Rentenalters steigen die persönlichen Freiheitsgrade erheblich. Der Ruhestand bietet einen nie da gewesenen Freiheitsraum. Er ermöglicht vielfältige Entscheidungen. Dies gilt nicht nur, aber auch für das Entfalten der jedem Menschen innewohnenden Talente.
Von diesen nämlich wurden während der Berufskarriere nur bestimmte, in jedem Fall wenige benötigt. „Eine Laufbahn ist das Gegenteil des eigenen Weges, den jedes Lebewesen sich aufgrund seiner einzigartigen Erfahrung bahnt, denn dieser Lebensweg ist einmalig und unwiederholbar“, schreibt Michael Andrick hierzu in seinem Buch „Erfolgsleere“. (Herder) der Freiheitsraum Ruhestand bietet nun die Gelegenheit, die „einzigartige Erfahrung“ des eigenen Lebens zu leben, nach seinen eigenen Werten und unter Entfaltung der eigenen Talente.
Auf die von erfolgreichen Führungskräften oft aufgeworfene Frage, warum sie denn eine Berufstätigkeit, die sie ausfüllt und befriedigt, aufgeben sollten, nur weil sie ein bestimmtes Alter erreicht hätten, lässt sich vor diesem Hintergrund antworten: weil sie, die Berufstätigkeit, die volle Entfaltung der Persönlichkeit blockiert. Oder mit anderen Worten: vor dem Hintergrund der begrenzten Lebenszeit ist ein „weiter so wie bisher“ gleichbedeutend mit dem Verzicht auf persönliche Entwicklung. Eine solche Entscheidung, nämlich weiterzuarbeiten, die völlig legitim ist, sollte von jedem jedoch im Bewusstsein der damit bedingten Einschränkungen getroffen werden.