„Ich gehe in den Ruhestand – was tun mit meinen beruflichen Kontakten?“ Eine Erwiderung auf Dorothea Assig und Dorothee Echter

(https://www.spiegel.de/karriere/karriere-ich-gehe-in-den-ruhestand-was-tun-mit-meinen-beruflichen-kontakten) vom 3. Juli 2023

In dem Beitrag antworten die beiden Autorinnen auf eine fiktive Frage von Silvio. "Silvio, 63 Jahre, fragt:' ich habe als Geschäftsführer einer Hotelkette viele interessante und einflussreiche Menschen kennengelernt und stets Kontakt gehalten. Was soll ich nun mit meinen Kontakten nach meiner Pensionierung machen?'"

Die Antwort der Autorinnen, ausgehend von dem Statement, “dass viel Freizeit nicht erfüllend ist“, ist an keiner Stelle richtig falsch, greift aber insgesamt deutlich zu kurz. Sie empfehlen im Grunde nur, die eigene Berufstätigkeit fortzusetzen, wenn auch in anderer Form, durch „Vorträge, Interviews, Seminare, Lehraufträge, ehrenamtliches Engagement etc.", und dafür die bestehenden Kontakte zu nutzen.

Meine grundlegende Kritik: die genannten möglichen Tätigkeiten, so richtig sie auch für einzelne sein mögen, wirken insgesamt wie ein Placebo. Sie lenken ab von der grundsätzlichen Frage, vor der Menschen, die sich viele Jahrzehnte primär über den Beruf definiert haben, mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben stehen. Wie ich aus meinen #Ruhestandscoachings und #Schloßseminaren weiß, suchen die meisten früher oder später Antwort auf die Frage: „Wer bin ich, wenn ich nicht mehr bin, was ich war"?

Bei der Reflexion darüber sind allerdings bisherige berufliche Kontakte nur in Ausnahmefällen nützlich. Dies besonders deshalb, weil dabei der Funktionsträger im Mittelpunkt stand, nicht der Mensch. Auf die Frage, was den Menschen hinter dem Vertriebsdirektor, dem Vorstand, der Ministerin, der Chefärztin oder dem Spitzensportler ausmacht, mit dem sie beruflich zu tun hatten, wissen die meisten Neu-Ruheständler keine oder nur eine oberflächliche Antwort. Auch gab es oft nur wenige persönliche Themen, über die man sich außer über die beruflichen ausgetauscht hat. Erschreckend wenig können die meisten über die Werteorientierung, persönliche Lebenswelt, religiöse Orientierung und Spiritualität, familiäre und soziale Bindungen ihrer Ex-Kontakte Auskunft geben.

Persönliche soziale Kontakte aber sind der Schlüssel zu Zufriedenheit und Glück nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Dies hat die längste Langzeitstudie der Welt über Glück und Glücksempfinden, die an der amerikanischen Harvard-Universität durchgeführt worden ist, jüngst nachdrücklich bestätigt. Die Studie, die 1938 begann, hat Probanden über mehr als 80 Jahre begleitet und regelmäßig befragt. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt in Deutschland das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und der Leibniz-Gemeinschaft.

Ich empfehle deshalb meinen Klienten, schon einige Jahre vor dem absehbaren Ende der Berufstätigkeit mit den Berufskontakten, zu denen man eine persönliche, auch emotionale Verbindung spürt, systematisch den Dialog auch über privat-persönliche Dinge zu suchen und sich auch gelegentlich informell, am besten mit Partnern, privat zu treffen. Im besten Fall ergeben sich daraus Beziehungen, die auch ohne berufliche Kontakte tragen und im Ruhestand weiter gepflegt werden können.

Kontakte, die diesen Ansprüchen nicht gerecht werden, flachen in der Regel ziemlich bald automatisch ab, da ohne die beruflichen die Themen fehlen, über die sich ein Austausch lohnt. Ein Manager, den ich erst kürzlich gesprochen habe, hat sich mit dem ersten Tag nach dem Erwerbsleben eine neue Handynummer besorgt und diese nur von ihm selbst ausgewählten Kontakten gegeben. Gleichzeitig hat er konsequent entschieden, zu keiner Branchenveranstaltung, zu keinem Neujahrsempfang, zu keinem Betriebsfest mehr zu gehen und sich auf die Kontakte zu beschränken, die ihm persönlich wichtig und bereichernd erscheinen.

„Wenn es sich für sie richtig anfühlt, tun sie es“, habe ich ihm geraten. Oft nämlich habe ich peinliche Situationen beobachtet, wenn Manager, die mal wichtig waren, auf Veranstaltungen vergeblich Gesprächspartner suchten, da sie niemand mehr kannte und sie nicht mit den Themen vertraut waren, über die gesprochen wurde.

Für jeden und jede ist es wichtig, sich mit der Aufforderung zu beschäftigen, die über dem Tempel von Delphi stand, nämlich: “Erkenne Dich selbst“. Der Übertritt in den Ruhestand ist der perfekte Moment, damit zu beginnen; neben allen sonstigen Aktivitäten, die Assig und Echter vorschlagen.