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Der Freiheitsraum Ruhestand verlangt Entscheidungen

Die Musikerin und Schriftstellerin Kat Kaufmann erzählt in einem Kurzporträt in der „ZEIT“ Nummer 42 vom 2. Oktober 2024 von der Protagonistin Esther im Roman „Die Glasglocke“ von Sylvia Plath, die das Leben als einen Feigenbaum betrachtet. An jedem Ast dieses Baumes hängt eine saftige Feige, die eine herrliche Zukunft verheißt. Jede Feige steht für die Realisierung eines Lebenstraums. Einen davon zu realisieren, also eine Feige zu wählen, bedeutet, die anderen zu verlieren. Also zögert die Protagonistin, so lange, bis schließlich alle Feigen verdorrt sind.

Das Bild erinnert mich an die Situation, in der sich viele Menschen nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben befinden. Angekommen im Freiheitsraum Ruhestand, wenn berufliche Verpflichtungen hinter ihnen liegen, stehen ihnen viele Wege offen, haben sie viele Möglichkeiten, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Im Beruf weitermachen, etwas Neues anfangen und sich selbstständig machen, sich um Familie, Partner/Partnerin oder Enkel zu kümmern, sich ehrenamtlich sozial, caritativ, in der Flüchtlingshilfe oder im Sport engagieren, den Hobbys frönen, Reisen, ein Seniorenstudium beginnen etc. Wie bei der Protagonistin Esther erfordert dies aber Entscheidungen, und wie im Bild des Romans beschränkt jede Entscheidung für eine der Möglichkeiten die Chancen, auch die anderen zu realisieren.

Kat Kaufmann formuliert: „Die Endlichkeit der Dinge wird mir jetzt bewusster“.

Das Bild des Feigenbaums beschreibt gut meinen Coachingansatz. Dieser hat das Ziel, den Coachees zu helfen, das Beste aus ihrem Leben zu machen und die verbleibende Lebenszeit zu nutzen, das „Leben in Fülle“ zu gewinnen, wie es im Johannesevangelium heißt. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Talente jeder und jede Einzelne in die Wiege gelegt bekommen hat. In der Analyse geht es darum, die zu benennen, die für die Berufskarriere wichtig waren und insofern genutzt wurden; und die zu identifizieren, welche nicht gebraucht wurden. Gerade diese in der dritten Lebensphase auszuleben und zu entwickeln, kann zur Bildung einer gereiften Persönlichkeit beitragen.

Dabei gilt es, wie Kat Kaufmann betont, die eigene Endlichkeit zu bedenken. Auch wenn heutige Ruheständler noch eine nie da gewesen lange Lebensspanne vor sich haben, ist diese doch begrenzt. Insofern hat die Frage Relevanz, ob weiterzuarbeiten, wie es vielfältig auf LinkedIn propagiert wird, zu mehr Lebenszufriedenheit führt, oder ob nicht ein Mehr vom Immergleichen sich am Ende fad anfühlt.

Einen guten Impuls zur Reflexion setzt der russische Erzähler und Dramatiker Anton Pawlowitsch Tschechow (1860-1904), wenn er sagt: „Verpfusche nicht das Finale Deines Lebens“.